(Kurz-)Geschichten

Weiße Ente gesucht?

Also, ich muss schon sagen... Was mir da gestern passiert ist... Unglaublich! Ich ging gerade nach Hause, als ich plötzlich über eine Zeitung stolperte. Ich hob sie auf, und welche Schlagzeile sprang mir da geradewegs ins Auge? „Ente gesucht! Biete 5.000 € für meine weiße Ente, wer sie findet, bitte melden unter..." und dann folgte eine Nummer. Nichts weiter. Hat sich derjenige vielleicht mal überlegt, wie viele weiße Enten durch die Gegend laufen? Ich frage mich vor allem, was an einer Ente so wertvoll sein soll, dass man soviel Geld für sie bietet... Vielleicht hatte sie ja den Familienschatz geschluckt? Und wenn jetzt eine weiße Ente abgeliefert wird, wird sie erst mal aufgeschnitten, um zu schauen, ob es die richtige ist? So ein Unsinn... Aber wieso mache ich mir überhaupt solche Gedanken darüber? Eigentlich kann es mir doch total egal sein...

Heute habe ich Joachim getroffen. Joachim, das ist der Zeitungshändler um die Ecke, der immer über alle Gerüchte und Neuigkeiten Bescheid weiß. Joachim ist nett, und er bleibt gern auf einen Schwatz stehen, ein älterer, gemütlicher Herr eben. Ich mag ihn gern, nur, wenn ich’s eilig habe, wechsle ich schnell die Straßenseite, denn ein Schwatz mit Joachim kann schon mal eine halbe Stunde dauern. Aber heute hatte ich es nicht eilig. Ich war nur schrecklich neugierig, was er wohl zu dieser Entengeschichte weiß, was er wohl dazu meint. Aber er wusste gar nichts davon! Das wundert mich sehr. Joachim weiß alles, was in der Zeitung steht, und wenn es nur das Kinoprogramm der nächsten drei Tage ist. Vielleicht tut er nur so als ob? Aber das sieht Joachim gar nicht ähnlich... Was mache ich mir eigentlich Gedanken darüber? Es geht mich doch gar nichts an...

Jetzt ist es schon eine Woche her, dass ich diese Entengeschichte in der Zeitung gelesen habe. Heute früh habe ich im Anzeigenteil nachgeschaut, sie steht immer noch drin. Joachim habe ich schon ewig nicht mehr gesehen. Nur gestern, als ich auf dem Weg zum Arzt auf die Straßenbahn wartete (ich bin nämlich erkältet), kam er die Straße entlang, wechselte aber dann die Straßenseite, als er mich sah. Geht er mir aus dem Weg, oder war das Zufall? Er hätte wenigstens grüßen können. Vielleicht hat er mich ja nur nicht gesehen? Aber eigentlich kann mir Joachim ja auch egal sein...

Gestern Nachmittag war ich bei Tante Petra. Sie wohnt etwas außerhalb, am Stadtrand, und bäckt immer so guten Kuchen. Als ich ihren Hund ein bisschen durch die Felder Gassi führte, kam mir ein Junge entgegen, der eine weiße Ente auf dem Arm trug. Da musste ich gleich an die Zeitungsanzeige denken. Und als ich heute früh in die Zeitung schaute, war sie nicht mehr drin! Haben sie also doch ihre Ente zurückbekommen. Hoffentlich war der Familienschatz auch wertvoll genug, dass sie die 5.000 € Finderlohn bezahlen können...

Habe heute Joachim getroffen. Er hat mich ganz komisch angeschaut. Ich habe ihn gefragt, was denn los sei, aber er hat nur gebrummt. Das passt gar nicht zu ihm. Danach bin ich in den Supermarkt gegangen, um Möhren zu kaufen. Wahrscheinlich muss ich etwas bedrückt ausgesehen haben, denn die Kassiererin fragte mich, was los sei. Da habe ich ihr erzählt, dass Joachim seit der Geschichte mit der Ente so komisch sei. Die Kassiererin wusste nichts von der Ente, aber sie sagte, dass Joachim doch nun bald in Rente ginge, und dass er sich überhaupt nicht darauf freue und deshalb etwas mufflig sei. Aber er könne doch den Laden weiterführen, meinte ich, aber die Kassiererin zuckte nur mit den Schultern. Armer Joachim, vielleicht sollte ich ihn für morgen Nachmittag zum Kaffee einladen und ihn ein bisschen trösten.

Jetzt ist es Abend, und Joachim ist gerade wieder gegangen. War ein sehr aufschlussreicher Nachmittag! Er war nämlich gar nicht wegen der Sache mit der Rente bedrückt. Sondern wegen der Ente! Okay, jetzt wird’s ganz verrückt, aber es ist so. Joachim hat nämlich eine Leidenschaft, und das sind Oldtimer. Er hatte sich eine weiße Ente zusammengespart, und die war gestohlen worden. Jetzt wurde sie wieder gefunden, und er ist traurig, dass er sie verkaufen muss, weil er doch so viel Finderlohn zahlen musste... Er wollte nur nichts sagen, damit ich ihn nicht für verrückt erkläre, wegen der Anzeige. Komische Geschichte... Jedenfalls habe ich ihn zur Oldtimerausstellung am Wochenende eingeladen, wir werden zusammen hinfahren. Da war er gleich ein bisschen fröhlicher, und wer weiß... Vielleicht findet er ja einen blauen Käfer oder ein anderes Auto, wer weiß?

Luise Kamusella

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