(Kurz-)Geschichten

Nebel der Zeit

Niemand hat sie je gesehen. Nicht der Schläfer, nicht der Wartende, nicht der, der dem Zug nachhetzt. Und doch ist sie Ziel allen Strebens, wir gieren förmlich nach ihr. Je gieriger wir sind, umso weniger gehört sie uns und je weniger wir von ihr besitzen, umso mehr entflieht sie uns und zeigt uns eine lange Nase.

Der alte Mann war schon lange hier bei uns. Hier, das heißt banges Warten für die einen, Hoffnung für die anderen. Für ihn: Endstation Hoffnung. Warten auf das Ende. Das Ende, das bereits nach ihm griff, mit jedem schweren Atemzug, den er nahm. Mit dem Piepen der Monitore und den Schläuchen, die wirr zu seinem Bett führten.

„Geben Sie mir nur ein bisschen Zeit“, hatte er mich gebeten. Zeit! Ich hätte ihm alles geben können - mehr Sauerstoff, weniger Schmerzen, mehr Schlaf, mehr Wärme, mehr Licht. Aber mehr Zeit? Wir hatten unser Arsenal an Waffen längst aufgebraucht, OP, Bestrahlung, Chemo. Irgendwann steht man hilflos da, in seinem weißen Kittel, die Taschen mit Stethoskop, Hammer, Handschuhen, Röhrchen, Spritzen, Memokarten gefüllt und den Kopf mit Wissen. Wir können Schmerzen lindern, Leiden verkürzen, Lebensqualität schenken. Doch Zeit? Ausverkauft, nicht mehr im Angebot.

Er hatte sein Leben lang unter der Erde gearbeitet, nun würde er auch die Rente unter der Erde verbringen müssen. Zynismus im Angesicht der Resignation? Ich wälzte die Lehrbücher, studierte die aktuellen Studien. Ich kontaktierte die Experten. Sie zuckten die Schultern. Man muss akzeptieren, dass es den Gott in Weiß nicht gibt. Wir können viel tun, doch wir sind nicht allmächtig.

Ich träumte. Ich schwamm unter Wasser, Welt in gedämpftem Grün. Vor mir sank der alte Mann langsam in die Tiefe, das weiß-blaue Krankenhaushemd wie einen Schleier hinter sich herziehend. Sein Mund formte die Worte: „Mehr Zeit!“, aber ich konnte ihn nicht hören. Um mich her drückte die Stille und lachte mich aus.

„Nur ein wenig mehr Zeit!“ Draußen leuchtete der Herbst in all seinen Farben, rot, golden mit silbernen Perlen im taubedeckten Gras. Nur hinaus, weg von der Zeit. Keine eilige Suche, nur Ruhe, feuchte, kalte Luft, Waldesrauschen. Die Bäume wichen auseinander, Blick über einen Wiesenhang in die Ferne. Gras mit Silberschleier bedeckt, Nebelschwaden, unendlich filigran. Da wusste ich: Ich hatte sie gefunden, auf der Flucht vor ihr, hier, wo ich sie am wenigstens gesucht hatte. Sie wohnte im Dunst, der den Blick auf die gegenüberliegenden Hügel verhüllte und in den Blättern, die mit ihrer Farbenpracht prahlten und doch nicht wussten, dass sie bald verwelkt zu Boden sinken würden. Sie versteckte sich hinter den Nebelfetzen, als zöge sie einen Schleier vor ihr Gesicht, um mich zu necken. Ich atmete tief ein. Doch wer kann den Nebel greifen, ihn in die Tasche stecken? Wer kann ihn in einer Flasche sicher verkorken, um ihn aufzubewahren? Ich hatte sie gefunden und doch entzog sie sich mir.

Ein leises Knacken, ein fallender Schatten. Ich bückte mich nach dem Stück Holz vor meinen Füßen. Fest, rau, real. Die Nebelfetzen strichen um mein Gesicht, benetzten meine Kleidung, befeuchteten das Holz. Ein Zeichen der Zeit? Ich steckte es in die Tasche, machte mich auf den Heimweg. Vielleicht würde sich der alte Mann freuen, ein Stück Natur in all der Sterilität. Vielleicht haftete ja ein Stück Zeit daran, die Zeit, die er sich so wünschte?

Nun stehe ich hier. Desinfektionsmittelgeruch, Piepen der Monitore. Sehe dem alten Mann zu, wie er um die letzten Atemzüge ringt. Auf seinem Bett vor mir liegt das Stück Holz, fest, rau, die Nebelspuren längst getrocknet. Und mir wird klar, dass wir die Zeit nicht festhalten können. In dem Moment, in dem sie uns gehört, ist sie bereits vergangen. Sie verbirgt ihr Antlitz und niemand weiß, was sie bringen wird. Die Zeit des alten Mannes war gekommen. Doch hatte sie ihm gebracht, was er sich gewünscht hatte? Ich werde es nie erfahren. Die Zeit hatte auch dieses Wissen mit sich genommen.

Luise Kamusella

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